Um mich physisch ein wenig zu fordern und vor allem meinen Horizont in Managementfragen einmal aus einer ganz anderen Perspektive heraus zu erweitern, gab ich mich Ende Juni einer Erfahrung der etwas anderen Art hin: Mit sieben weiteren Teilnehmern nahm ich für acht Tage in den USA an einem Training teil, das von ehemaligen Navy Seals Soldaten geleitet wurde. Wir waren eine bunt gemischte Teilnehmergruppe: drei Seals-Anwärter, die das Training zu ihrer Vorbereitung nutzten, ein Manager aus Holland, einer aus Australien und zwei weitere aus den USA – allesamt durchtrainierte Männer, die ihre Führungsfähigkeiten weiterentwickeln wollten.

Die physischen Voraussetzungen für eine Teilnahme an dem Training waren den Anforderungen, die an uns gestellt wurden, entsprechend hoch.

Navy Seals

Autor Matthias Kolbusa

Der Tagesablauf

Jeder Trainingstag begann um sechs Uhr früh mit Atem- und Konzentrationsübungen. Es folgten unterschiedliche Trainingseinheiten, wie man sie von Videos der Navy Seals her kennt. Das physische Training ging stets über die Grenzen der vermeintlichen Belastungsfähigkeit hinaus. Vermeintlich deshalb, weil eines der Leitmotive der Navy Seals lautet:

„Wenn dein Geist dir sagt, du kannst nicht mehr, dann bist du bei ungefähr 40 Prozent deiner Leistungs- beziehungsweise Belastungsfähigkeit angelangt.“

Zwischen den physischen Herausforderungen, die sich über den ganzen Tag bis in den späteren Abend hinein verteilten, erfolgten verschiedene Unterrichtseinheiten. Dabei ging es neben den Prinzipien der Selbstkontrolle auf der mentalen und physischen Ebene vor allem – man höre und staune – um Sinnfragen und das Verständnis von Führung und Teamgeist.

Obwohl die physischen Trainingseinheiten die meiste Zeit in Anspruch nahmen und dazu führten, dass ich jeden Abend für einige Stunden in ein wahres Schlafkoma fiel und mich trotz einer recht soliden Fitness morgens kaum bewegen konnte, standen sie nicht im Vordergrund. Sie waren lediglich Mittel zum Zweck.

Fünf zentrale Aspekte

Es ging den Seals während der acht Tage im Kern um die Vermittlung von fünf Aspekten:

  1. Sinn
  2. Mentale Stärke
  3. Emotionale Resilienz
  4. Führungsfähigkeit
  5. Teamgeist

Im Folgenden werde ich einige der Einsichten, die ich in dieser Woche gewann, mit Ihnen teilen. Um all die in diesen Tagen gemachten Erfahrungen darzustellen, würde es jedoch ein ganzes Buch brauchen.

Body-Mind-Connection

Die physische Dimension stellt bei diesem Training insofern lediglich ein Mittel zum Zweck dar, als eine Grundüberzeugung der Navy Seals darin besteht, dass man sich auf der mentalen oder emotionalen Ebene nur so weit entwickeln kann, wie man seine Grenzen auf der physischen Ebene erlebt und überwunden hat.

Ganz praktisch bedeutet das: Ich klettere an einem Seil 15 Meter in die Höhe und muss anschließend zu einem Podest gelangen, das zwei Meter entfernt ist. Man spürt ganz deutlich die Angst, diese Aufgabe nicht zu schaffen. Man muss lernen, sie wahrzunehmen und sie anzunehmen, um sich von ihr nicht in einen verderblichen Sog ziehen zu lassen und damit mein Geist vernünftig arbeiten kann, um mit den Füßen die erforderliche Trittschlaufe zu bilden.

Bei einer anderen Übung – eine der Lieblingsübungen der Navy Seals zum Training mentaler Stärke – liegen wir im Liegestütz auf dem Boden. Am Tag 1 berührten die ersten Knie bereits nach sechs Minuten den Boden. Am Tag 7 geschah dies erst nach sage und schreibe 40 Minuten! Hatten wir in den wenigen Tagen dazwischen unsere Kraft versechsfacht? Nein. Wir hatten nur gelernt, unseren Geist zu beobachten, dieses ständige Geplapper in unserem Kopf. In den sogenannten „Mind Gym“ zu gehen, sich dort zu entspannen und zu konzentrieren, unabhängig davon, was einen gerade „quält“. Hier ist es schön greifbar: Der physische Teil der Übung, der Liegestütz, ist nur dazu da, den mentalen und emotionalen Bereich zu trainieren. Die Überzeugung, die dieser Übung zugrunde liegt: Die mentale Stärke kann nur so ausgeprägt sein, wie die physische entwickelt ist.

Der Gewinn für den Managementalltag besteht in einer größeren mentalen Stabilität und größerer Gelassenheit.

Sinn: das „Why“

Bleiben wir bei dem Beispiel mit den Liegestützen. Warum soll ich mich 40 Minuten lang quälen? Warum soll ich versuchen, die Position zu halten, obwohl mir bei 40 Grad Celsius im Schatten der Schweiß aus allen Poren rinnt und die Arme vor Anstrengung zittern? Warum? Nur ein starkes „WHY“, der Sinn dahinter, kann das tragen. Wie im normalen Leben auch. Wir können nur viel leisten, und das mit Begeisterung und Geduld, wenn das „WARUM“ geklärt ist. Mein „Warum“, der Grund, mich eine Woche dieser Tortur zu unterwerfen, war meine Absicht, meine Selbstwahrnehmung zu steigern, um als Vater, Ehemann, Berater und schlicht als Mensch souveräner, gelassener und somit liebevoller zu agieren. Dieses Ziel war ausreichend, um mich durch diese Woche zu tragen und allerlei Qualen auf mich zu nehmen.

Führung: „Was machen Sie da?“

Anhand sehr eindringlicher Momente in ganz einfachen Situationen vermittelten die Navy Seals uns, was Führung bedeutet: Ich stand vor der Gruppe, wie das jeder von uns immer wieder tun musste, und erklärte, dass wir als Nächstes einen „Burpee“ machen würden. Anschließend zeigte ich den anderen Teilnehmern, wie das abzulaufen hatte, und fragte. „Ready?“ Die Gruppe antwortete: „Ready! Ready!“ Auf mein Kommando gingen alle auf den Boden und machten nach, was ich zuvor gezeigt hatte. Und das völlig unsynchron und jeder in seinem eigenen Tempo. Ich ließ die anderen die geforderten zehn Wiederholungen absolvieren und bekam daraufhin einen Einlauf der Extraklasse: Was ich da veranstalten würde. Ob ich nicht sähe, was das Team macht. In der Führung habe ich mich nicht auf den Inhalt, sondern auf meine Kollegen zu konzentrieren. Welche Geschwindigkeit die richtige sei. Genau! Die des langsamsten Teammitglieds. „Passen Sie das Tempo entsprechend an. Wenn das nicht sauber abläuft, dann ist das kein Versagen des Teams oder eines Teammitgliedes, das nicht Schritt halten kann, sondern Ihres!“

Das waren klare Worte, die mir da gesagt wurden. Was das für den Alltag im Management heißt, können Sie sich an fünf Fingern abzählen. Ich werde das, wie so einiges andere, das ich in diesen acht Tagen erlebt habe, nie vergessen.

Ruhe bewahren und kontrolliertes Atmen in jeder Situation

Nach einer Trainingseinheit standen auf einer Anhöhe zwei große schwarze Wannen bereit. Keiner wusste, was nun auf uns zukommen würde. Während die Gruppe unten trainierte, wurde ein Teilnehmer nach dem anderen auf den Hügel hinaufgerufen. Wie Sie sich denken können, durften wir nicht einfach nach oben gehen, sondern mussten die Strecke auf allen vieren („Bear Crowling“) zurücklegen. Immer wieder erklang unmissverständlich der Befehl „Faster!“. Völlig erschöpft und außer Atem kam ich oben an. Während der Tage zuvor hatten wir umfangreiche Atemübungen gemacht, um auch in Stresssituationen wieder ruhig zu werden, Sympathikus und Parasympathikus zu synchronisieren und unsere Gedanken zu beobachten. Nun also die diesbezügliche Feuertaufe, die sich der Übung halber in den kommenden Tagen noch einige Male wiederholen sollte. Als ich endlich oben auf dem Hügel ankam, rang ich nach Atem und bekam folgende Anweisung: „Hände in die Taschen stecken und – ohne die Hände wieder aus den Taschen zu nehmen – wie eine Schlange in die erste Wanne hineinkriechen, durch sie hindurchrobben und dann in die zweite Wanne hinein. Dort bleiben Sie im Wasser liegen.“ Gesagt, getan. In der ersten Wanne schien das fünf bis sieben Grad kalte Wasser wie Nadeln in meine Haut zu stechen. Reflexartig wollte ich die Hände aus den Taschen reißen und aus dem Wasser springen. Kontrolle! Bleib drin und robb da durch. Geschafft. Irgendwie gelang es mir, mich aus der Wanne zu winden und auf der Wiese zu liegen zu kommen – mit den Händen in der Tasche. Sofort ging es hinein in Wanne Nr. 2. Das Wasser war ebenso kalt. „Stay there! Turn around!“ Ich rang nach Atem. „Ruhig, Matthias, versuch, ruhig zu atmen“, sagte ich mir immer wieder. Einer der Seals reichte mir eine leere Plastikflasche, deren Boden angeschnitten war, und wies mich an, sie in den Mund zu nehmen, völlig unterzutauchen und durch die Flasche zu atmen. Nach 30 Sekunden dürfe ich wieder hochkommen. Erster Versuch: Ab unter Wasser, vor lauter Aufregung und Nervosität natürlich zu schnell. Sofort schluckte ich kaltes Wasser und musste husten. Ich schnellte hoch. Der Seal setzte mich unter Druck. „Was machen Sie da?“ Es war verdammt schwer und bedurfte einiger Anläufe, bis ich diese Lektion erfolgreich hinter mich gebracht hatte: Ruhig ins Wasser eintauchen, ebenso ruhig und kontrolliert atmen, nicht hyperventilieren, in meinen Mind Gym gehend alles andere um mich herum vergessen.

Stets die Ruhe bewahren und kontrolliert atmen, egal was geschieht, das ist die Lehre aus dieser Übung.

Verzweiflung: an Aufgaben zerbrechen

Ein weiterer Tag neigt sich seinem Ende zu. Nach zig Meilen „Rucking“, Marschieren mit 25 Kilogramm Gepäck, und mit dem zusätzlichen Gewicht überstandenen Übungen sowie einer weiteren Trainingseinheit am Nachmittag waren wir am Ende. Dennoch sollten zum Abschluss zwei weitere Ausdauereinheiten absolviert werden: 100 „Jack-Knives“ (auf dem Rücken liegend Arme und beide gleichzeitig heben und in der Luft berühren) und 100 „Scheren“ (auf dem Bauch liegend Arme und Beine gleichzeitig auseinanderschwingen und wieder zusammenführen, ohne dass sie den Boden berühren). Wie immer war es uns überlassen, im Team zu überlegen, wie wir die gestellten Aufgaben am besten erfüllen konnten. Mittlerweile hatten wir gelernt, nicht zu versuchen, die 100 Übungen am Stück zu machen. Also entschieden wir uns, das Paket in Fünferschritten abzuarbeiten. Fünf Wiederholungen. Kurze Pause, wieder fünf Wiederholungen. Ungefähr bei Wiederholung 70 erfolgte der barsche Kommentar, wir würden der Übung keinen Respekt zollen. Völlig schlampige Ausführung und nicht synchron! Deshalb das Ganze noch mal von vorne! Erste Anzeichen der Verzweiflung waren auszumachen. Die 100 „Jack-Knives“ waren dennoch irgendwann geschafft. Nun kamen die „Scheren“ an die Reihe. Kurz entschlossen gingen wir nach demselben Muster vor: fünf Wiederholungen, Pause, wieder fünf Wiederholungen. Nach 70 Wiederholungen hieß es: Das Ganze noch mal von vorne – und nach weiteren 50 Wiederholungen erneut: Noch mal von vorne! Der Australier brach in Tränen aus und machte damit deutlich, wie es uns allen ging. Ein schwieriger Moment. Einer der Seal-Coaches machte uns klar: Wenden Sie den Blick von der scheinbar nicht zu bewältigenden Aufgabe ab! Überdenken Sie Ihr System! Warum machen Sie nicht nur zwei Wiederholungen hintereinander? Weil fünf Wiederholungen hintereinander bei einer Übung richtig waren, heißt das nicht, dass das immer richtig ist! Und schauen Sie nur auf die nächsten zwei Wiederholungen. Kümmern Sie sich nicht um die 100! Fangen Sie von vorne an!

Auch dies wird eine Lehre von vielen sein, die ich nie vergessen werde. Natürlich war mir vorher bereits klar, dass man große Aufgaben in kleine Happen zerlegen muss. Aber nie zuvor wurde mir so deutlich vor Augen geführt, wie entscheidend es ist, die „Häppchen“ richtig zu bemessen und auch in der Führung den Blick lediglich auf das nächste „Häppchen“ zu richten.

Später wurde dasselbe Prinzip immer wieder bei wesentlich komplexeren Aufgaben angewendet. Wenn es beispielsweise darum ging, im Gelände das gesamte Team zu einem scheinbar unerreichbaren Ziel zu bringen, oder man sich nicht erheben durfte, jedoch schweres Gepäck und Verletzte mit nach vorne bringen musste. Im Fokus stand immer nur der nächste Abschnitt. Ein Problem nach dem anderen und ohne jemals den Blick auf den gesamten Problemberg zu richten.

Courage is not the absence of fear

Ein Kernaspekt des Trainings war, zu verstehen, dass Mut nicht die Abwesenheit und damit auch nicht die Unterdrückung von Angst bedeutet. Das ist ein Aspekt, den ich in meinem aktuellen Buch „KONSEQUENZ. Management ohne Kompromisse“ ausführlich behandle. Wir alle haben Angst, und das jeden Tag. Insbesondere wenn wir Aufgaben meistern wollen, denen wir uns noch nie gestellt haben: einen neuen Vortrag halten, ein neues Produkt entwickeln oder einfach ein schwieriges Gespräch führen.

Es gilt, diese Angst anzunehmen, nachzudenken, zu reflektieren, eine Entscheidung zu treffen. Auch wenn es hoch hergeht, darf man niemals die Kontrolle über sich und seine Aufgabe verlieren. Die Schuld dafür, dass es schwierig wird oder dass die Dinge nicht so laufen, wie sie laufen sollten, ist niemals bei den anderen zu suchen – und auch nicht bei sich selber. Beobachten, reflektieren, entscheiden, so lautet die Devise. Und dabei immer das Team, nicht sich selber im Blick haben.

Ein Tunnelsystem. Enge. Dunkelheit. Grauenhafte Musik in einer Lautstärke, dass man kein Wort verstehen und sich nur schwer konzentrieren kann. Irgendwie geht es auf der anderen Seite des Berges wieder hinaus. Etliche Abzweigungen sind Sackgassen. Urängste kommen auf. Platzangst, Verzweiflung. Und wieder: atmen, überlegen, entscheiden. Den Teamkameraden aus der Sackgasse ziehen, immer darauf achten, dass man zusammen bleibt. Kooperation in Extremsituationen schweißt zusammen. In einem solchen Maße wie hier habe ich das nie zuvor erlebt. Als jemand, der bekannt dafür ist, dass er von Teamentwicklungen und Weiterbildungsmaßnahmen nicht viel hält, sondern diese als Geld- und Zeitverschwendung ansieht, muss ich sagen, dass ich zu meinen sieben Teammitgliedern nach diesen acht Tagen eine Beziehung aufgebaut habe, die lange bestehen bleiben wird.

Hat Ihnen dieser Gastbeitrag zum Thema Navy Seals und Management gefallen? Dann erfahren Sie mehr über den Keynote Speaker und Autor Matthias Kolbusa!